
Zwischen Sehnsucht und Schmerz
Gedanken zum Film Queer
Ein Essay von Sugata Tyler
Das Schwarzweiß ist so kontrastreich, dass es die Grautöne verschluckt. Die Szene zeigt ein kahles Badezimmer. Helle Fliesen. Harte Schatten. In der Szene zuvor saß er noch gelassen in einem Ledersessel – ein kühler Blick, die Frage, wie der Kontakt gestorben sei, beantwortet er trocken: „Not well.“
Dann dieser Schnitt. Ein brutaler Umschlag.
Im nächsten Moment sehen wir ihn, wie er unter sichtbarer Anstrengung einen bewaffneten Mann mit dem Gesicht ins Waschbecken drückt. Die Waffe zerschlägt einen Spiegel. Ein Schuss fällt. Wir spüren die Kälte, den Schweiß, aber gleichzeitig sehen wir diese kühle Kontrolle in seinem Gesicht. Es ist ein Kampf auf Leben und Tod – und die Kamera lässt uns keine Distanz. Wir sind mittendrin.
Es ist das Jahr 2006. Und Daniel Craig zeigt der Welt seine Interpretation von Ian Flemmings James Bond. Den Staub hatte er abgeschüttelt. So fühlte es sich an. Plötzlich war da dieser neue Bond – einer, der eine rohe Gewalt ausstrahlte und gleichzeitig eine unerwartete Zerbrechlichkeit. Ein Mann, der tötet, weil er muss – und der zugleich das Bild zeigt aufrichtig verliebt zu sein.
Fast zwei Jahrzehnte später, im Jahr 2024, sehen wir Craig erneut mit einer Handfeuerwaffe – doch diesmal in einer ganz anderen Rolle. In Luca Guadagninos Queer spielt er Lee, einen queeren Amerikaner, der als Expat in Mexiko-Stadt lebt. Die Pistole, die er trägt, wirkt wie ein Echo seines alten Film-Ichs – ein Macho-Relikt aus der Bond-Ära. Doch an Lees Körper ist sie mehr als nur eine Waffe: Sie steht für ein Männlichkeitsbild, das Lee weder erfüllt noch wirklich annimmt. Ihre Präsenz wirkt fast absurd – wie ein Fremdkörper an einem Mann, der mit der normativen Idee von Männlichkeit nichts anfangen kann. Und doch imitiert er, ganz entfernt, dieses Machismo – um eine Form von Gefahr darzustellen.
Gerade deshalb ist es so wirkungsvoll, dass ausgerechnet Daniel Craig diese Figur spielt. Der ehemalige Bond-Darsteller verkörpert hier nicht mehr die Fantasie vom perfekten Mann – sondern vielmehr deren Zerbrechlichkeit. Und aus dieser Zerbrechlichkeit erwächst eine andere, tiefere Form von Stärke.
Queer ist kein Film über queeres Leben im modernen Sinn. Er ist ein Film über das Queerse als Zustand – als Anderssein, als ständiges Suchen, als Heimatlosigkeit. Lee lebt in einer Welt voller Bars, Sex, Drogen. Das pulsierende Leben Mexikos begegnet uns als Zuschauer überall – in Straßenmusik, Neonlichtern, lauten Stimmen.
Doch inmitten all dessen ist Lees innere Welt von einer tiefen Einsamkeit durchzogen. Es ist dieser Kontrast, der eines der großen Themen des Films ausmacht: Wie fühlt es sich an, in einer Welt zu leben, in der man nirgends ankommen kann? Lee sucht emotionalen Anschluss – sehnt sich nach romantischer Liebe, nach Sex, der mehr ist als ein Akt. Nach einem Gegenüber, das ihn sieht. Doch was er findet, ist die Kälte der Einsamkeit. Was Queer so aufwühlend macht, ist nicht seine queere Perspektive – sondern, dass er von einem Gefühl erzählt, das zutiefst menschlich ist: der Wunsch, gesehen und geliebt zu werden, und die Angst, für immer allein zu bleiben.
Gerade deshalb ist der Film so traurig, so intensiv, so aufwühlend.
Als Lee in Queer zu Beginn des Films auf Eugene trifft, läuft Nirvanas „Come as You Are“. Zeitlupe. Schweigen. Ein Blick, der mehr sagt als Worte. Es ist dieser wunderschöne cineastische Moment, der – seit West Side Story – unsere Vorstellung von Liebe auf den ersten Blick prägt. Die Art, wie Lee Eugene ansieht, lässt uns den Moment aus seiner Perspektive erleben. Als würden wir uns selbst verlieben.
Erst später erfahren wir, dass sich die beiden bereits kennen. Doch in der Logik der Szene wissen wir nur: Für Lee – Craigs Figur – ist dieser Mann nicht irgendein Fremder. Er ist eine Möglichkeit. Die große Hoffnung, dass seine Einsamkeit vielleicht doch ein Ende haben könnte.
Als Lee in einer Bar aus Entfernung Kontakt zu Eugene aufnehmen will, inszeniert er eine kleine Performance – humorvoll, charmant, leicht nervös. Aber Eugenes Blick bleibt kühl, verständnislos, distanziert. Gerade dieser Moment offenbart, wie kindlich und liebevoll Lees Seele ist. Man ahnt: Die Waffe, die er trägt, ist nichts als aufgesetzter Machismo. Doch Eugene bleibt verschlossen, schwer greifbar. Auch bei späteren Dates bleibt dieser Kontrast bestehen. Zwischen ihnen steht eine unsichtbare Wand. Lees Humor verpufft. Und obwohl vieles darauf hindeutet, dass Eugene emotional unerreichbar ist, kann Lee seine Gefühle nicht einfach abschalten. Und Eugene? Verschwindet nicht aus Lees Leben. Er bleibt. Irgendwie.
Es gibt viele berühmte erste Küsse auf der Leinwand – Jack und Rose am Bug des Schiffs, Mary Jane und Spiderman kopfüber im Regen. Doch der erste Kuss in Queer ist anders: ein stiller Moment, zart und voller Nähe – wie ein Destillat der großen Themen des Films. Nach einem Date landen Eugene und Lee in Lees Wohnung. Eugene hat zu viel getrunken, muss sich übergeben. Lee hilft – bringt Wasser, ist fürsorglich. Und als die beiden einander schließlich näherkommen, sagt Eugene: „I smell like vomit for sure.( Ich rieche bestimmt nach Erbrochenem.)“ Lee antwortet mit einem liebevollen Lächeln: „No, you don’t. (Nein, das tust Du nicht)“ Und küsst ihn.
Dieser Kuss ist kein Triumph. Er ist Erfüllung einer Sehnsucht, die sich über lange Zeit aufgebaut hat. Wir haben Lee gesehen – wie er Eugene ansehen, berühren, erreichen wollte. Seine Sehnsucht ist so groß, dass selbst der Geruch von Erbrochenem keine Rolle spielt. Es zählt nur dieser eine Kuss – vielleicht der Anfang von etwas Schönem.
Der Abend entwickelt sich tatsächlich zu etwas Zärtlichem. Die beiden kommen sich körperlich näher. Und doch bleibt Eugene rätselhaft. Seine sexuelle Orientierung bleibt unklar. Was wir aber spüren: Er ist unfähig, sich wirklich zu binden – und zugleich unfähig, loszulassen.
In der wohl intimsten Szene des Films kümmert sich Lee um Eugene. Er küsst und liebkost seinen Penis – zärtlich, voller Hingabe. Es ist keine Sexszene im klassischen Sinne, kein „Blowjob“ im pornografischen Vokabular. Es ist ein Akt der Liebe. Anders als in Steve McQueens Shame, wo es die aktive Lust des Protagonisten spätestens bei diesem Thema nicht gibt, geht Queer mutig diesen Schritt mit dem größten Vertrauen in seinen Hauptdarsteller. Daniel Craig geht volles Risiko – und verleiht dieser Figur eine Glaubwürdigkeit, die unter die Haut geht und weit über die Projektionsfläche hinausstrahlt. Drew Starkey, bislang eher unbekannt, spielt Eugene mit einer schwer greifbaren Präsenz – und glänzt dabei still, aber kraftvoll an der Seite von Daniel Craig.
Eugene genießt es sichtlich, hat einen intensiven Höhepunkt.
Was dann folgt, ist herzzerreißend.
Eugene beginnt, Lee mit der Hand zu befriedigen. Und diesmal passt das Wort: „Handjob“ aus dem pornografischen Vokabular. Schnell, mechanisch, fast gleichgültig. Während Lee in seiner zärtlichen Hingabe alles gegeben hat, wirkt Eugenes Geste wie eine Pflicht, wie ein Abschluss. Für Lee ist es Intimität. Für Eugene: vielleicht nur ein Akt.
Der Schmerz liegt im Ungleichgewicht dieser Berührungen. Auf der einen Seite: Liebe. Auf der anderen: bloße Befriedigung. Und spätestens hier ahnen wir: Diese Beziehung wird nie gleichwertig sein. Sie ist einseitig – wie so viele queere Lieben in einer Welt, die ihnen keinen Schutz bietet. Doch auch in heterosexuellen Beziehungen, in langjährigen Ehen, findet sich dieses Ungleichgewicht immer wieder, gerade im sexuellen Kontext. Der Film erlaubt deshalb keine Distanz – er betrifft uns alle. Der Film fragt nicht nur nach sexueller Identität, sondern auch nach Nähe, nach Lesbarkeit. Warum interessiert sich Lee so sehr für Telepathie? Vielleicht, weil er Eugene verstehen will – weil er ihn lesen will, wo Sprache versagt. Eugene bleibt ein Rätsel. Vielleicht queer, vielleicht bi, vielleicht einfach unfähig zu Nähe.
Wir begleiten Lee auf seiner Reise zu Eugene – mit dieser endlosen Sehnsucht im Herzen. Und genau hier stellt sich für mich als Autor eine zentrale Frage: Was erzählt man – und was lässt man besser offen? Dieses Essay soll im besten Fall neugierig machen auf den Film, nicht alles vorwegnehmen. Es ist keine vollständige Nacherzählung der Handlung, sondern eher ein Trailer in Textform. Eine Annäherung, keine Analyse. Eine subjektive Perspektive auf ein Werk, das Raum lässt für viele Deutungen. Denn jede:r andere könnte diesen Film ganz anders empfinden – und vielleicht darin Dinge entdecken, die mir selbst entgangen sind.
Der Film führt uns weiter in den Süden – Eugene und Lee auf gemeinsamer Reise, durch eine weite, flirrende Landschaft, in der Hoffnung und Entfremdung nebeneinander existieren. Für Lee wird diese Reise zum emotionalen Tiefpunkt. Denn obwohl Eugene so nah ist, bleibt er doch unerreichbar.
In einer der traurigsten Szenen des Films liegt Lee krank auf einem Bett – der Körper fiebrig, erschöpft, zitternd unter einer Decke. Auf dem zweiten Bett, nur wenige Schritte entfernt, liegt Eugene. Zwischen ihnen: ein leerer Raum, der sich anfühlt wie ein Abgrund. Eugene tut nichts. Kein Wasser, keine Worte, keine Geste. Und man erinnert sich an die Szene am Anfang des Films – als Lee fürsorglich ein Glas Wasser brachte, als Eugene sich übergeben musste. Nun aber bleibt Lee allein, frierend in seiner Sehnsucht, schwitzend im Fieber.
Erst als Lee, am Ende seiner Kräfte, mit leiser Stimme bittet, kommt Bewegung: Er schleppt sich zu Eugene ins Bett. Es ist keine Umarmung, kein Trost. Nur das Aufgeben eines Abstands. Und dennoch bleibt die Kälte.
Zwei Körper in einem Bett – aber keine Nähe. Diese Szene ist das leise, erschütternde Herzstück des Films. Sie zeigt, wie man nebeneinander existieren kann, ohne sich jemals wirklich zu begegnen. Vielleicht ist das die eigentliche Tragik: Nicht der Verlust der Liebe, sondern ihr Ausbleiben, obwohl sie zum Greifen nah scheint. Vielleicht zerstört das am Ende die Seele viel mehr als die Einsamkeit selbst.
Im späteren Teil des Films zeigt Queer, was Sexualität sein kann. Das Schöne an diesem Medium ist ja, dass es Gefühle nicht erklären muss – es zeigt sie. Bilder finden für das, was Worte oft nicht fassen können. Und manchmal vergisst man beim Zuschauen zu atmen, wenn zwei Menschen miteinander verschmelzen. Wortwörtlich. So, wie auch neues Leben entsteht.
Mich erinnerte das an ein Interview mit dem amerikanischen Autor Ken Wilber, das ich mit Anfang 20 gesehen habe. Es ging um Spiritualität – und in dem Zusammenhang auch um Sexualität. Wilber sagte, dass im Tantra weder Mann noch Frau die Erleuchtung ohne einander erreichen können. Dieser Gedanke hat damals etwas in mir verändert.
Wir leben in einer Welt, in der Sex überall ist – in Werbung, in Serien, auf Instagram. Aber was fehlt, ist oft eine andere Dimension: die jenseits der reinen Befriedigung. Der Film erinnert uns daran, dass Sexualität auch Verbindung sein kann. Vielleicht ist sie sogar einer der wenigen Wege, diese Welt für einen Moment zu verlassen – und uns dem Mysteriösen zu nähern, woher wir kommen. Vielleicht ist genau das der Unterschied zwischen befriedigender Sexualität – und erfüllender Sexualität.
Ich lasse es an dieser Stelle offen, ob Lee das bekommt, wonach er sich sehnt. Aber am Ende trägt er die Farben des Regenbogens in sich. Es ist ein Symbol dafür, dass seine Seele queer ist. Aus unserer Geschichte wissen wir, dass keiner – kein Einzelner, kein System, nicht die Gesellschaft- die Natur eines Menschen ändern darf. Wir leben in einer Zeit, wo Queerfeindlichkeit weltweit zunimmt. Die Welt kann für das Leid queerer Menschen groß sein. Übergriffe, Ausgrenzung, Unsichtbarkeit. Wenn es keine echten Räume für Zugehörigkeit gibt, bleibt nur Ersatz: Drogen, Alkohol, Binge-Eating, Rückzug. Nicht, weil queere Menschen schwach sind – sondern weil die Welt oft zu hart ist für ihre Zartheit.
Für mich ist Queer auch ein stiller Aufruf, unsere Welt zu öffnen – damit Menschen lieben dürfen, was sie lieben müssen. Denn das Leid des Einzelnen kann so groß sein, dass es seine ganze Welt zum Einsturz bringt. Dieses Einstürzen wird in Queer gezeigt mit den Visionen: das Hotel, die Pistole – das sind Bilder aus Lees innerem Raum. Zwischen Begehren und Gewalt, Sehnsucht und Auslöschung. Es ist nicht Hass, was ihn zur Waffe greifen lässt – es ist Ohnmacht. Und als am Ende die Farben des Regenbogens aufleuchten, wirkt das wie ein letzter Trost: Da war Schönheit in ihm. Da war Liebe. Da war Wahrheit. Wie können wir unsere Welt davor verschließen?
Diese Farben – sie stehen für etwas Größeres. Für das Queerse als Seele. Für einen Menschen, der nicht anders konnte, als queer zu sein. Der nicht spielen konnte. Der nur echt sein konnte – selbst in der Trauer.
„Queer“ ist kein leichter Film. Er gibt auch nicht Antworten. Aber er stellt die richtigen Fragen – über Nähe, Einsamkeit, Begehren, Männlichkeit und das tiefe, unstillbare Bedürfnis, endlich gesehen zu werden. Und vielleicht – nur vielleicht – verlässt man das Kino ein wenig anders, als man es betreten hat. Ich jedenfalls habe es mehr als nur ein wenig anders verlassen.
Sugata Tyler